Interreligiöser Dialog – eine Standortbestimmung
„Jeder soll, von da wo er ist, einen Schritt näher kommen.“
Dieser Satz aus einer Geschichte von Navid Kermani beschreibt, worum es beim interreligiösen Dialog geht: Wissen, woher man kommt – aufeinander zugehen – zuhören – fragen – und erzählen.
Interreligiöser Dialog meint den Austausch und die Begegnung von Menschen unterschiedlicher Religionen.
Davon zu unterscheiden ist der konfessionelle Dialog unterschiedlicher Ausrichtungen innerhalb einer Religion, wie etwa die Ökumene im Christentum zwischen katholischen, evangelischen, orthodoxen oder freikirchlichen Christen. Auch der Islam, das Judentum und der Buddhismus kennen eine große Vielfalt von Gruppierungen.
Diskussionsräume sind von unschätzbarem Wert.
In Zeiten, in denen die kulturelle und religiöse Vielfalt in unserem Land angegriffen wird, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit dramatisch zunehmen und demokratiefeindliche Kräfte die Gesellschaft spalten, sind Diskursräume, die ganz unterschiedliche Menschen einbeziehen sowie Teilhabe und Sichtbarkeit fördern, von unschätzbarem Wert. Interreligiöse Lernprozesse bringen Menschen mit ihren Geschichten und Glaubenserfahrungen zusammen, um über die großen Fragen des Lebens nachzudenken. Dass solche Gespräche gelingen, ist weder selbstverständlich noch zufällig.
Eine religionssensible Haltung ist wichtig.
Welche Religionen am Dialog beteiligt sind, ist sehr unterschiedlich und hängt von den konkreten Personen und Gruppen ab, die sich vor Ort engagieren. Dabei kommt es gar nicht so sehr darauf an, dass die Beteiligten besondere Kenntnisse über die Religion der Dialogpartner mitbringen. Viel wichtiger ist eine religionssensible Haltung. Dazu gehört, dass kein Partner versucht, andere von der Wahrheit seiner Religion zu überzeugen oder aktiv zu missionieren. Sich gegenseitig mit Wertschätzung zu begegnen, gehört zu den Grundkompetenzen im interreligiösen Dialog. Dies zeigt sich vor allem im Umgang mit Konflikten.
Vertrauensvolle und verlässliche Beziehungen sind sehr wertvoll.
Nach der anfänglichen Begeisterung über die entdeckten Gemeinsamkeiten – und da gibt es viel mehr, als man zunächst vermutet – werden sehr schnell auch Unterschiede, Unverständnis, Vorurteile und Machtgefälle deutlich. Nationale Konflikte und religiös aufgeladene Kriege bergen ein eigenes Konfliktpotenzial, wie wir es gerade durch die Gewalt in Israel und Gaza erleben. Die Zugehörigkeit zu einer Mehrheits- oder Minderheitsreligion macht einen großen Unterschied in der öffentlichen Wahrnehmung, in den zur Verfügung stehenden Ressourcen und in dem Betroffensein von Diskriminierung. Im interreligiösen Dialog sind daher verlässliche und vertrauensvolle Beziehungen, die auch gegenseitiges solidarisches Handeln einschließen, sehr wertvoll.
Die Religiosität von Menschen verändert sich.
Sie wird individueller, pluraler und weniger an Institutionen gebunden, so der Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann Stiftung. Dies hat Auswirkungen auf den interreligiösen Dialog. Die eigene religiöse Verortung, die Menschen in interreligiösen Kontexten mitbringen, ist nicht mehr unbedingt an eine gefestigte religiöse Sozialisation gebunden. Religiöse Texte, Riten, Feste und Glaubensvorstellungen lösen daher bei vielen Menschen, und zwar unabhängig davon, in welcher Religionsgemeinschaft sie sich selbst verorten, Fremdheitserfahrungen oder auch berührendes Entdecken aus.
Wie wollen wir miteinander leben?
Ein friedliches Zusammenleben ist nur möglich, wenn wir uns auf ethische Normen und Maßstäbe verständigen. Letztlich geht es immer um die Frage: „Wie wollen wir miteinander leben?“ Die Weltreligionen eint die Vorstellung, geschaffen, angewiesen und endlich zu sein, Verantwortung zu tragen und auf eine göttliche Macht ausgerichtet zu sein. In den großen Veränderungsprozessen, in denen wir uns befinden, können spirituelle Ressourcen Menschen unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen zusammenführen und zu gemeinsamem Handeln befähigen. Der interreligiöse Dialog wird so zu einem Ort, der Menschen stärkt und ermutigt, sich für Klimagerechtigkeit, Menschenrechte, Frieden und soziale Gerechtigkeit für alle einzusetzen und religiöse Positionen in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen.
In der Arbeit mit Multiplikator:innen der interreligiösen Begegnung, ob mit Lehrkräften, kirchlichen Hauptamtlichen, Ehrenamtlichen und den Partnern aus den Religionsgemeinschaften, versuchen wir in der ELKB eine solche Haltung einzuüben und zu stärken.
Mirjam Elsel
Beauftragte für interreligiösen Dialog der Evang.-Luth. Kirche in Bayern
Dieser Beitrag ist in der zett die Zeitung für evangelische Jugendarbeit in Bayern im Oktober 2024 erschienen. „Interreligiöser Dialog“ ist das Thema dieser Ausgabe. zett Oktober 2024
Fotos oben: W. Noack