Zwischen Identitätssuche und identitärer Abgrenzung
Interreligiöser Dialog im Jugendalter – Brücke Köprü in Nürnberg
Jemal ist 17. Er ist Nürnberger; trotzdem ist er Bayern-München-Fan. Er ist Deutscher und Albaner.
Albanisch kann er nur ein paar Worte. Im Kosovo war er noch nie, aber er sagt, dass das seine Heimat ist. Darüber, dass seine Familie muslimisch ist, hat er eigentlich nie nachgedacht. Seit dem Krieg in Palästina fühlt er sich immer mehr als Muslim. Die Gleichgültigkeit um ihn herum macht ihn wütend. Jemal kennt Leute im Internet, denen geht es genauso. Es wird immer schwerer für ihn, das alles zusammenzubringen. Wenn er sich für Eines entscheiden müsste, dann…
Transkulturalität
„Transkulturalität“ ist der Fachbegriff, der beschreibt, wie es Jemal und vielen jungen Menschen mit Migrationsgeschichte geht: je nach Kontext erleben sie verschiedene Zugehörigkeiten und Solidaritäten. Als Mitarbeitende von BRÜCKE-KÖPRÜ in Nürnberg erkunden wir, vor welchen Aufgaben und Herausforderungen das Zusammenleben in einer Gesellschaft steht, in der Menschen mit immer mehr kulturellen und religiösen Bezügen dazugehören wollen. Dafür machen wir auch Projekte mit Jugendlichen in Schulen, in der Schulsozialarbeit oder in Kooperationen mit Kirchen- und Moscheegemeinden.
Wahrnehmen der eigenen religiösen Identität schafft positive Zugänge zur Vielfalt.
Wir sind überzeugt, dass die Wahrnehmung der eigenen religiösen Identität in ihrer Vielschichtigkeit und die Fähigkeit, diese im Gespräch mit Anderen zum Ausdruck zu bringen, einen wichtigen Beitrag leisten, um Differenzkultur zu lernen und positive Zugänge zu Vielfalt zu entwickeln. In unserem unmittelbaren Arbeitsumfeld in der Nürnberger Südstadt beträgt der Anteil von Schülern und Schülerinnen mit Migrationsgeschichte je nach Schulform zwischen 70 und 90 Prozent. Entsprechend groß ist auch die Vielfalt der kulturellen und religiösen Zugehörigkeiten. Gerade für Jugendliche mit Migrationserfahrung hat Religion eine ungleich größere „emotionale Bedeutung“ als für Jugendliche ohne diese biographische Grunderfahrung. Während sich nur wenige „biodeutsche“ Jugendliche als evangelisch oder katholisch outen, betonen muslimische Jugendliche zu einem großen Teil offen und stolz ihr Muslimsein. Angesichts der schwierigen Suche nach Identität zwischen Herkunft und Zukunft scheint die religiöse Selbstzuschreibung einen verlässlichen Anker zu bieten. Dass sie deshalb regelmäßig beten oder fasten, ist damit nicht automatisch verbunden.
In einer postmigrantischen Gesellschaft müssen wir über Religion sprechen.
In einer postmigrantischen Gesellschaft müssen wir auch über Religion sprechen, gerade weil sie ambivalent sein kann. Religion ist nicht automatisch ein heilsamer „Identitätsanker“: Losgelöst von Tradition und Spiritualität kann sie zu einem Brandbeschleuniger und zum Mittel „identitärer Abgrenzung“ werden. Dann wird sie gefährlich. Vielen jungen Muslimen geht es gerade ähnlich wie Jemal: Sie haben das Gefühl, die verschiedenen Seiten ihrer Identität kaum mehr zusammenzubringen. Das macht sie anfällig auch für radikale Antworten.
Demokratiefördernd und identitätsstärkend
Interreligiöse Bildungsarbeit mit Jugendlichen muss darauf reagieren! Demokratiefördernd und identitätsstärkend ist sie nur dann, wenn sie junge Leute in dieser Spannungslage abholt und sie ermutigt, diese Komplexität auszuhalten. Statt Schubladen wie „Jude“, „Muslim“, „Christ“ zu etablieren, muss es zentral darum gehen, einander in diesen vielfältigen Bezügen und Spannungen als Mitmenschen wahrzunehmen.
Der 17-Jährige Ilya, mit ukrainischen Wurzeln, russischer Muttersprache und jüdischem Glauben, lebt zwischen ähnlichen Zugkräften wie der junge Kosovo- Albaner Jemal. Aber warum sollten diese zwei Mitschüler über dem Krieg im Nahen Osten zu Feinden werden? Schließlich sind sie doch beide Bayern-München-Fans. Da muss man zusammenhalten… umso mehr in Nürnberg.
Dr. Thomas Amberg
Pfarrer und Islamwissenschaftler
Theologischer Leiter der Brücke Köprü, Begegnung von Christen und Muslimen
www.bruecke-nuernberg.de
Die BRÜCKE Köprü ist eine Einrichtung der ELKB im Dekanat Nürnberg für den interreligiösen Dialog von Christen und Muslimen. In ihren Räumen und in Kooperation mit Kirchen- und Moscheegemeinden, Schulen und Einrichtungen ermöglichen sie interreligiöses Lernen in persönlichen Begegnungen.
Sie gestalten ein vielfältiges Angebot, von interreligiöser Kinder- und Elternarbeit über Treffen für Männer und Frauen bis hin zur Arbeit mit Schulklassen und Studierenden. In ihrem Praxishandbuch stellen sie Dialogorte, Praxisbeispiele und Ideen vor, die die Bedeutung dieses Themas hervorheben und anregen, sich damit zu beschäftigen.
Grafik oben: Brücke Köprü