Nicht ganz normal…  Norm-iert – Gotteskind

Eine Andacht von Michael Stritar, Dekanatsjugendpfarrer in München

 

Gott gebe uns blöde Augen für Dinge, die nichts taugen und Ohren voller Klarheit für all seine Wahrheit. Amen

 

Ein bisschen unsicher war sie schon, als sie auf mich zugegangen ist. Ich hatte den LKW der Evangelischen Jugend München am CSD begleitet. Hinten rechts. Damit niemand verletzt wird. Etwa 130 junge Leute der EJM. Ein bunter Haufen. Laute Partymusik. Und sie pusten Seifenblasen zu Regenbögen in den Himmel. Der Regenbogen: Ich Gott und Du Mensch – wir gehören zusammen.

 

Die junge Frau spricht mich an: Ihr seid doch von der Kirche? Sie würde sich so gerne trauen. „Keine Ehe zweiter Klasse“ kann sie auf unserem LKW lesen. Sie will sich trauen, und ja, es ist eine queere Trauung. Sie wollen Gottes Segen für ihr Leben und ihre Beziehung. Reichlich und im Überfluss. Vor Gott und der Gemeinde JA sagen.

 

Auf dem Weg

Als Evangelische Jugend sind wir beim Christopher Street Day (CSD) dabei. Wer sich auf den Weg macht, der kann etwas erleben. Ort, Zeit und Gelegenheit stimmen. Kairos würde man vielleicht theologisch sagen.

 

Der Engel des Herrn sagte zu Philippus in der Apostelgeschichte 8,27-28. „Mach dich auf den Weg Philippus.“
Und siehe, ein Mann aus Äthiopien, ein Kämmerer und Mächtiger am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien, welcher ihren ganzen Schatz verwaltete, der war nach Jerusalem gekommen, um anzubeten. Nun zog er wieder heim und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja.

 

Der Kämmerer ist auf dem Weg. Er liest den Propheten Jesaja. Philippus kommt, fragt nach und fährt ein Stück mit dem Kämmerer, dem mächtigen schwarzen Mann aus Äthiopien. Der mächtige schwarze Mann ohne Namen ist genau genommen gar kein Mann im traditionellen Sinne. Er ist ein Eunuch. Ein Kastrat. Für sein Amt am Hof der Königin waren ihm die Hoden entfernt worden, vielleicht auch alle Geschlechtsteile. Der mächtige schwarze Mann ohne Namen ist das, was heute „queer“ heißt.

 

„Queer“ – auf deutsch „quer“ oder „seltsam“ – nennen sich die, deren Leben, Körper und Sexualität nicht der Norm entspricht. Die sagt: Normal ist es, Mann oder Frau zu sein, heterosexuell und am besten weiß und der Mittelschicht zugehörig.
„Queer“ sind also Schwule, Lesben, Transsexuelle, Intersexuelle, Männer, die sich weiblich geben, Frauen, die sich männlich fühlen, Menschen, die nicht in die Zweiteilung der Welt passen.

„Queer“ ist auch der Eunuch, der mächtige schwarze Mann ohne Namen. Sympathisant des Judentums. Philippus erzählt ihm von Jesus und predigt ihm das Evangelium. Dann passiert Erstaunliches:
Und als sie auf der Straße dahinfuhren, kamen sie an ein Wasser. Da sprach der Kämmerer: Siehe, da ist Wasser; was hindert’s, dass ich mich taufen lasse? Und er ließ den Wagen halten und beide stiegen in das Wasser hinab, Philippus und der Kämmerer, und er taufte ihn.

 

Der Beginn: Anders

Der queere, mächtige, schwarze Mann ohne Namen ist der erste nicht-jüdische Mensch, der sich taufen lässt. Und Philippus, der Judenchrist, der einfache Missionar aus der unteren Mittelschicht, er macht es einfach. Er tauft ihn. Ohne Glaubensbekenntnis, ohne Lebenswende und vor allem lange bevor Paulus und Petrus, die Cheftheologen, sich beim ersten Apostelkonzil einigen, dass man Christ:in werden kann, ohne vorher Jüd:in gewesen zu sein. Er tauft ihn ohne den Segen der frühen Kirche. Somit ist dieser queere, mächtige, schwarze Mann ohne Namen gewissermaßen unser aller Vorfahr. Er ist der Beginn.

 

Auf der Straße in der Wüste, im Gespräch mit Philippus beginnt die Geschichte des Christentums als eigenständige Religion. Unser Vorfahr, der queere, mächtige, schwarze Mann ohne Namen – er passt in keine Norm. Er will zu Gott gehören. Er lässt sich taufen. Gottes großes JA steht.

 

Ein Regenbogen im Himmel – bunte Seifenblasen – Gottes Bund. Die Liebe Gottes gilt auch den Menschen, die nicht der „Norm“ entsprechen. Sie gilt dir und mir, egal wen wir lieben. Es steht uns gut an, die Liebe Gottes als Maßstab zu nehmen. C. und S. lassen sich trauen – oh wie „normal“. Sie erhalten Gottes Segen.

 

Ich wünsche den beiden und uns allen, wie es in der Apostelgeschichte vom Kämmerer heißt: Er zog aber seine Straße fröhlich.

Michael Stritar
Dekanatsjugendpfarrer in München und
Mitglied der Landesjugendkammer der Evang. Jugend in Bayern

Diese Andacht wurde auch in zett. Zeitung für evangelische Jugendarbeit in Bayern, Ausgabe Herbst 2023 veröffentlicht. 

 

Fotos oben: W. Noack
Foto unten: ejb/S. Johnke